Strafrecht und Justizpolitik sind ein Begriffspaar wie Geld und Freispruch. (Foto: Oswald)
(Wien, im April 2009) Die in Wien ansässige österreichische Strafverteidigervereinigung (VÖStV) ist beeindruckend. Dieser Club der Strafrechtler besteht aus 69 Wiener Strafverteidigern. Das Monatsverdienst dieser Herren, meistens Herren, liegt zwischen 15.000 und 50.000 Euro.
Club der Gutverdiener
Den Gutverdienerclub der Wiener Strafverteidiger ergänzen sechs Vorarlberger Strafverteidiger, 17 Tiroler, 20 Steirer, 14 Salzburger, 21 Oberösterreicher, neun Niederösterreicher, sieben Kärntner und ein Burgenlandler. Insgesamt sind 158 Strafverteidiger in diesem Club organisiert. 33 nennen eine Webseite zu ihrer Kanzlei.
Dem Club der Gutverdiener mit der Not der Menschen, die in die Fänge der Polizei und einer Behörde namens Staatsanwaltschaft geraten, steht ein Wiener Verteidiger vor, der auch Universitätsdozent ist: Richard Soyer.
Kein Kartell
Die Vereinigung der Strafverteidiger will kein Kartell sein, das sich die Häftlinge untereinander aufteilt. Es ist nicht beabsichtigt, etwa am Landesgericht Wien und dem Anschlussgefängnis JA Wien-Josefstadt, die konstant 1.300 Untersuchungshäftlinge auf die 69 Wiener Strafverteidiger „aufzuteilen“.
Es wäre verlockend: Rechnet man vor, dass von 1.300 U-Häftlingen die Hälfte mittellos ist und mit Verfahrenshelfer vertreten wird, blieben 650 U-Häftlinge über, deren Causen im Schnitt 3.000 Euro „wiegen“. In Summe liegen über das Jahr konstant, denn das „Graue Haus“ ist ständig voll und dicht belegt, 1.950.000 Euro im Talon für die in Wien tätigen Strafverteidiger zur freien Entnahme (alte Währung: 26 Millionen und 832.000 Schilling).
Da Strafverteidiger keine Wohltäter sind, die jemanden kostenlos vertreten, herrscht natürlich um 650 Häftlinge, die einen strafrechtlich versierten Verteidiger suchen, ein Gedränge wie zum Beginn eines Rugby-Matches beim Ballaufwurf. Dass dieses Gedränge doch relativ gesittet abläuft, zeigt, dass Strafverteidiger keine Wölfe sind, sondern Menschen. Der Mensch muss dem Menschen kein Wolf sein, wenn dieser sich zu koordinieren weiß.
Reviere markieren
In der besten Zeit hatte Strafverteidiger Werner Tomanek, Mitglied der Strafverteidigervereinigung, in der JA Wien-Josefstadt 44 Untersuchungshäftlinge parallel in Betreuung. Taxiert man jeden, der in U-Haft schmort und raus will, mit (konservativ) 3.000 Euro, die er für die Wiedererlangung der Freiheit investieren muss, partizipierte Anwalt Werner Tomanek in seiner guten Zeit am Leid der Menschen mit 132.000 Euro zum Stichtag (alte Währung: 1,8 Millionen Schilling).
44 Untersuchungshäftlinge sind vier Fussballmannschaften. Es liegt an der großen Gabe des Strafverteidigers Werner Tomanek, dass er sich 44 Namen und 44 Gesichter und 44 unterschiedliche Akten gut merken kann.
Strafverteidiger Roland Friis hatte zu seiner guten Zeit (2008) 16 Untersuchungshäftlinge parallel im sicheren Stall der JA Wien-Josefstadt im Betonhof laufen. Er war „im Geschäft“, da Angehörige bei einem Sozial- und Wohlstandsversager, der in U-Haft sitzt, eher bereit sind für jeden Anwaltsschrieb und Verfahrensantrag den Hut in die Runde zu reichen, um den Verteidiger zu entlohnen. Verkaufserfolge für Verteidigerleistung sind bei einem Untersuchungshäftling leichter durchzusetzen als bei einem Freifüßler, der keinen Prozessdruck spürt.
Der Verein „Vertretungsnetz“ (vormals: Verein Sachwalterschaft) mit vier Niederlassungen in Wien arbeitet mit dem Verteidiger Rudolf Mayer zusammen, wie diesem Journal ein Büroleiter von „Vertretungsnetz“ mitteilte. Rudolf Mayer lässt seine Visitenkarten bei der Justizwache der JA Korneuburg im Besucherraum auflegen, was ihm einen direkten Draht zu neuen Inhaftierten und deren Angehörigen verschafft.
Der Wiener Strafverteidiger Elmar Kresbach ließ in den 90er Jahren über „Hausarbeiter“ in gewissen Etagen der JA Wien-Josefstadt seine Visitenkarten unter dem zusammengefalteten Kopfpolsterbezug so manchem Neuankömmling (U-Häftling) in der JA Wien-Josefstadt „zukommen“. Das geschah trotz „Werbeverbot“ für Anwälte in einer Justizanstalt (und – zur Ehrenrettung – vor Bestehen der Strafverteidigervereinigung).
Sprachrohr
Die Strafverteidigervereinigung kümmert sich grundsätzlich um die Geschäfte der Anwälte und Verteidiger etwa im größten Wiener Landesgericht und JA Josefstadt nicht. Anwälte haben in der Gesellschaft immer noch einen Sonderstatus: Sie sind „Freiberufler“. Sie werden in keinem Einkommensranking erfasst und der Unterschied, dass eine Verkäuferin im Handel 14.500 Euro brutto im Jahr verdient, kümmert eine Vereinigung derer, die 15.000 Euro brutto für netto im Monat verdienen, wenig. Der Club der Strafverteidiger sieht sich als Standesvertretung im politischen Sinn.
Kantönligeist
Sie will ein Sprachrohr wie die Richtervereinigung (der Richter und Staatsanwälte) sein und auf den Gesetzgeber einwirken. Auf Exekutivseite gibt es ähnliche Gruppierungen wie die Kriminalisten oder die Bundesvereinigung der Kriminalbeamten. Auch sie wollen Standespolitik machen und sich Gehör verschaffen.
Die Strafverteidigervereinigung macht einmal im Jahr einen „Strafverteidigertag“, an dem alle zusammen kommen. Am 28. März 2009 fand er heuer statt. Da die Konferenz eines Strafverteidiger-Clubs, der etwas auf sich hält, ein Abschlusskommuniqué braucht, stellte am 2. April 2009 dieser Club der Gutverdiener seine Forderungen vor.
Banale bis interessante Forderungen
Diese Forderungen sind teilweise banal, teilweise von Interesse.
Forderung 1 verlangt, dass das Hauptverfahren stärker in den Mittelpunkt des Strafprozesses gerückt werden muss. Das ist eine Platitüde, denn es ist nicht bekannt, wo das nicht so ist.
Forderung 2 verlangt eine bessere Ausstattung der Justiz und 150 Richter und Staatsanwälte mehr. Das diene allen Bürgern, so die Vereinigung, die feststellt: „Österreich ist ein reiches Land, es hat Mittel für wesentlich unwichtigere Aufgaben zur Verfügung.“ Was die „wesentlich unwichtigeren Aufgaben“ sind, in denen das Geld verschleudert werde, wird nicht gesagt.
Forderung 3 beschäftigt sich mit einem inoffiziellen Teil. Interessanterweise verlangt der Gutverdienerclub in Forderung 1, dass „das Hauptverfahren stärker in den Mittelpunkt des Strafprozesses gerückt werden muss“, aber zugleich in Forderung 3, dass Absprachen zwischen Staatsanwalt, Richter und Verteidiger zulässig sind. „Eine gesetzmäßige Regelung dieser Kommunikation ist nicht erforderlich.“ Statt 11 Os 77/04 möge der OGH mehr Freiraum für solche „Absprachen“ schaffen, so die Strafverteidigervereinigung.
Forderung 4 verlangt die Einführung des Wechselverhörs nach amerikanischem Muster („Kreuzverhör“). Das Wechselverhör ist die Einvernahme des Angeklagten oder Zeugen durch die Parteien und nicht durch den Richter. Mit dieser Forderung wünscht man die Rolle des Richters auf einen Koordinator und Schiedsrichter des Hauptverfahrens zu reduzieren. Das solle der „Erforschung der materiellen Wahrheit unter Berücksichtigung der modernen Aussagepsychologie“ dienen. Gegen diese Forderung spricht, so dieses Journal, das komplett zu diesem Modell gegenläufige, neue Opferschutzgesetz, das den Zeugen aus dem Gerichtssaal in ein Fernsehkastel verbannt, wo er seine „kontradiktorische Einvernahme“ gemacht hat. Da die kontradiktorische Befragung weit vor der Hauptverhandlung stattfindet, gibt es wohl kaum einen Anwalt, der Monate vor der Hauptverhandlung in die Materie schon so gut eingearbeitet ist, dass er die richtigen, kritischen Wechselverhör-Fragen an einen Zeugen stellt, der dann bei der tatsächlichen Hauptverhandlung schon wieder weit im Ausland ist oder sonstwo.
Forderung 5 verlangt die stärkere Berücksichtigung von Privatgutachten im Strafverfahren. Diese Forderung findet sicher vielerorts Zustimmung. Die Kultur des „Zweitgutachtens“ ist in Österreich überhaupt nicht ausgeprägt. Dass diese Privatgutachten einen geringen Stellenwert haben und oft überhaupt nicht beachtet oder zugelassen werden, ist Tatsache. Dass Beziehungsnetze von gewissen Strafverteidigern Auftrags- und Gefälligkeitsgutachten erzeugen können, ist die weitere Wahrheit, meint dieses Journal. Vor allem in Missbrauchsfällen und solchen, die es sein sollen, täte das verpflichtende Zweitgutachten Not wie die zweite Diagnose vor dem Herzkatheder, da der Schulenstreit gerade in der Kinderpsychiatrie so offenbar liegt wie in keinem anderen Fach (Spieltheorie versus Aussagepsychologie).
Forderung 6 zum Geschworenengericht will etwas anderes als die Richtervereinigung oder die neue Justizministerin. Die Richter wollen entweder die Laiengerichtsbarkeit komplett abschaffen oder zwei Richter in das Geschworenenzimmer setzen, die den acht Geschworenen bei der Erörterung und Begründung der Schuldfrage „helfen“. Damit wäre es möglich, den „Wahrspruch“ im Urteil in großen Schwurprozessen genau zu begründen. Und zu bekämpfen. Die „Schuldfrage“ ist derzeit in Österreich einfacher im Einzel- und Schöffenrichterverfahren (Beisein von Richtern im Beratungszimmer) im Instanzenzug zu biegen, als beim großen Geschworenenprozess, wo die Abstimmung durch Daumenhoch oder Daumennieder der abgeschotteten Laienrichter zu Stande kommt. Die Strafverteidigervereinigung ist zudem für mehr Rechtsbelehrung der Geschworenen. Und für ein besseres „Auswahlverfahren mit effektiver Ablehnung von Geschworenen“. Und für mehr Rechtsmittelmöglichkeiten beim Schwurgericht.
Forderung 7 hat mit der Schöffengerichtsbarkeit Großes vor: Man will „den beisitzenden Richter abschaffen“. „Volle Senatsbesetzung“ soll nur für größere Arbeitsbelastung offengehalten werden. Diese Forderung hat ein Körnchen Wahrheit. Der Beisitzer dreht meist im Verfahren nur Daumen und stellt in drei Stunden Hauptverhandlung eine Frage, oder keine. Die Abschaffung richtet sich auch darin, dass manche Fälle nur durch die erhöhte Strafandrohung (ab 5 Jahre) Schöffenzuständigkeit erreichen, nicht aber durch die Aktenlage. Der Fall bleibt oft in Vorbereitung und Aufwand in der Qualität eines Einzelrichterprozesses stecken. Den zweiten Richter zu streichen, wäre ein Schritt in Richtung Effizienz, so dieses Journal.
Forderung 8 verlangt die Verbindung eine „zeitnahe Umsetzung“ des Videobeweises und der Videodokumentation im Vorfeld des Strafverfahrens. Der „Beweis“ muss das Kernthema des Strafprozesses werden, so die Strafverteidigervereinigung und Richter seien verpflichtet, sich auf dem Gebiete der Beweisschaffung und Beweiserzeugung nach modernsten Wissenschaften auf dem Laufenden zu halten. Videoaufzeichnung von Lokalaugenscheinen sei die „bestmögliche Dokumentationsform“.
Forderung 9 spricht sich gegen die Ausweitung des Protokolls- und Urteilsvermerks aus.
Neun Forderungen aus Graz
Das sind die neun Forderungen, die der Strafverteidigertag am 28. März 2009 in Graz bei einer Tagung festgehalten hat. Wie weit die 158 Strafverteidiger aus der Strafverteidigervereinigung Einfluss haben, lässt sich nicht sagen. Österreich hat rund 6.000 Juristen, allein in Wien arbeiten 1.900, die an Gerichten Geld und Anzüge verdienen.
Wie weit 158 Strafrechtspezialisten legitimiert sind, Forderungen zu erheben, sei dahingestellt. Umgekehrt ist zu sagen, dass es im Strafrecht wenigstens eine Vereinigung gibt, die politische und wissenschaftliche Forderungen erhebt. Im Bereich des Zivilrechts und anderer Rechtsbereiche ist in Österreich keine nennenswerte Vereinigung bekannt. Dort wird im Geheimen Geld gemacht. Die Strafverteidiger, um keinen Deut besser, tun es wenigstens öffentlich.
Marcus J. Oswald (Ressort: Positionen)
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